Wer ist wir?

Zur Jahrtausendwende wurde die Fahnenfrage „Wahlrecht für AusländerInnen“ zum Kristallisationspunkt fortschrittlicher Politik in Österreich – ehe sie ein jähes Abflauen erfuhr. Eine Spurensuche nach den Gründen für das Aufblühen und Verklingen sowie den Perspektiven der Frage nach dem Wir. Ein Beitrag für die Stimme von und für Minderheiten #108.

Beim Wahlwechsel überlassen Stimmberechtigte ihre Stimme vom Wahlrecht ausgeschlossenen. Im Rahmen von WIENWOCHE im September 2013 bringen Wahlwechsel-Paare den Wahlkarte zur Post.
Beim Wahlwechsel überlassen Stimmberechtigte ihre Stimme vom Wahlrecht ausgeschlossenen. Im Rahmen von WIENWOCHE im September 2013 bringen Wahlwechsel-Paare den Wahlkarte zur Post. Bild: Drago Palavra/Wienwoche.org

Demokratie ist, sagt Hans Kelsen, wenn die soziale Ordnung durch die ihr Unterworfenen erzeugt wird. Für einen Verfechter der parlamentarischen Demokratie wie Kelsen bedeutete dieses demokratische Versprechen das aktive und passive Wahlrecht für die Allgemeinheit. Doch seit es die Idee der Demokratie gibt, wird um die Frage gekämpft, ob dieser Allgemeinheit auch wirklich alle angehören. Dabei muss der Ausschluss von Sklaven, Steuerbefreiten oder Frauen in früheren Zeiten vielen so selbstverständlich erschienen sein, wie heute jener von AusländerInnen.

Das Wahlrecht für AusländerInnen ist eine Fahnenfrage für die politischen Lager. Wer dazugehört und wer nicht, wurzelt tief im politischen Selbstverständnis von rechts und links. Zur Jahrtausendwende erlebte die Debatte in Österreich ein Aufflackern und wurde zu einem Kristallisationspunkt fortschrittlicher Politik: Die Forderung wurde zum gemeinsamen Vektor von Zivilgesellschaft und Parteien. Was waren die Gründe für die Themenkonjunktur, warum ist heute die Luft draußen und was sind die Perspektiven im Kampf gegen die defizitäre Demokratie?

Kelsen kannte nicht das Ausmaß der grenzüberschreitenden Mobilität von Menschen, Waren, Kapital und Information, die wir heute als Globalisierung bezeichnen. Aber als Rechtsdogmatiker erkannte er bereits in den 1920er Jahren die Gefahr für die Demokratie, die vom Ausschluss „Staatsfremder“ ausging. Die Koppelung politischer Rechte an einen exklusiven Status der Staatsbürgerschaft bezeichnete er in seiner programmatischen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ schlicht als einen „Irrtum“. (( „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ Hans Kelsen, 2. Auflage 1929))

Wer die Demokratie wie Kelsen mit der Freiheit von Gleichen begründet, kann zu keinem anderen Schluss kommen. Der Staat dient der demokratischen Gemeinschaft, nicht umgekehrt. In Kelsens Denken ist der Staat so zu gestalten, dass sich die reale Gemeinschaft bestmöglich demokratisch organisieren kann. Einen Teil der Rechtsunterworfenen hinauszudefinieren, damit das Elektorat einem Ideal von Staatsvolk entspricht, lässt sich schwerlich mit Freiheit und Gleichheit begründen. Übersetzt: In Zeiten der Globalisierung haben Nationalstaaten mit Abstammungsprinzip ein erhebliches Demokratiedefizit. Unter der Voraussetzung, dass Staatsvolk, Herrschaft und Territorium eine Einheit bilden – wie es die klassische Staatstheorie behauptet – mag die Staatsbürgerschaft ein praktikabler Anker für politische Rechte sein. Doch diese Übereinstimmung ist in Migrationsgesellschaften bestenfalls Wunschdenken.

AnhängerInnen des Status Quo wenden ein, der Ausschluss von Fremden sei sachlich gerechtfertigt, da ihre dauerhafte Betroffenheit von den Folgen demokratischer Entscheidungen nicht gesichert sei. Ein Argument, dass sich mit Hinweis auf das Wahlrecht von AuslandsösterreicherInnen leicht entkräften lässt. Es ist nicht schwer zu unterscheiden, wer mit dem demokratischen Prinzip der Gleichheit und wer mit dem nationalen Prinzip der Abstammung argumentiert. Eine Wasserscheide zwischen rechts und links und insofern ein geeignetes Thema für die Mobilisierung der Lager: Die Frage, wer ist wir?

In den 1990er Jahren kam eine rege Diskussion über das Wahlrecht von MigrantInnen – die defizitäre Demokratie – in Gang. WissenschafterInnen wie der Politologe Rainer Bauböck argumentierten für ein Citizenship-Modell, bei dem das Wahlrecht an einen dauernden Aufenthalt gebunden ist und nicht an die Staatsbürgerschaft. Mit dem Vertrag von Maastricht kam das kommunale Wahlrecht für EU-BürgerInnen. Auf dem Gerichtsweg bekämpften ausländische ArbeitnehmerInnen den eingeschränkten Zugang zu Betriebsratswahlen. Die Grünen und Teile der Sozialdemokratie hefteten sich ein allgemeines „Ausländer-Wahlrecht“ auf die Fahnen. Und in der Zivilgesellschaft formierten sich zahlreiche Wahlrechtsinitiativen. Begünstigt wurde dies durch ein europäisches Bekenntnis zur Anti-Diskriminierung im Vertrag von Amsterdam, dem Programme und Gelder folgten. Die Regierungsbeteiligung der FPÖ gab weiteren Aufschwung.

Initiativen 

In der Bugwelle des Widerstandes gegen Schwarz-Blau schlossen sich Ende 2000 die Kunstinitiative gettoattack und die AntirassistInnen von ANAR (Austrian Network against Racism) zur Wiener Wahlpartie zusammen. Die Wahlpartie stand nicht am Stimmzettel, aber ihre Existenz sorgte für einen Ruck in der NGO-Szene. Im Umfeld von SOS Mitmensch und Asyl in Not formierte sich etwa die Kampagne „Österreich für alle gleich“. Sie widmete sich dem ehrgeizigen Ziel, die Bundesverfassung zu ändern. Artikel 7 solle nicht mehr bloß die StaatsbürgerInnen als vor dem Gesetz gleich erklären, sondern alle Menschen, die hier leben. Neben einem Wahlrecht für alle umfasste der Forderungskatalog auch Vermögenssteuern und frauenpolitische Themen. ((Vgl. Philipp Sonderegger: Gleich zu gleich gesellt sich ungern. In: Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderheiten, 100, 2016, S. 12-13.))

ANAR (nunmehr ENARA – European Network against Racism) stellte so etwas wie das Epizentrum der aktivistischen Wahlrechtsinitiativen dar. Der nächste Vorstoß unter dem Titel „Wahlwechsel“ war eine Kampagne, bei der Wahlberechtigte ihre Stimme Nicht-Wahlberechtigten überlassen. Die Aktionsidee wurde 2013 im Rahmen des Kulturfestivals Wienwoche als „Wahlwexel Jetzt“ wiederholt. Eine Anzeige der FPÖ beim Verfassungsschutz hatte Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nach sich gezogen, doch diese verliefen im Sand. „Es hat sich nicht feststellen lassen, dass Personen mit fremden Wahlkarten gewählt hätten“, sagte die Sprecherin der Wiener Staatsanwaltschaft, Nina Bussek, gegenüber der APA lapidar. ((Zitiert nach: https://diepresse.com/home/innenpolitik/1492481/Wahlwexel_Justiz-stellt-Ermittlungen-ein))

Derzeit bereiten das Frauenvolksbegehren und SOS Mitmensch ein Pass-Egal-Volksbegehren vor. Ähnlich der Pass-Egal-Wahl anlässlich der Nationalratswahlen werden hier vom Stimmrecht ausgeschlossene an einer real durchgeführten Wahl teilnehmen können, deren Ergebnis allerdings nicht in die Zählung mit einfließt. „Für manche war es das erste Mal, dass sie ein Wahlkuvert in die Urne werfen“, erzählt Alexander Pollak von SOS Mitmensch über eine tiefe emotionale Betroffenheit, die selbst ein symbolischer Akt bei vielen TeilnehmerInnen ausgelöst hat. 

Perspektiven

Pollak bestätigt auf Nachfrage den Eindruck, dass es um die Wahlrechtsbewegung ruhiger geworden ist. Die Pass-Egal-Wahl sieht er als symbolischen Protest, eine weniger skandalträchtige Alternative zu Aktionen wie dem Wahlwechsel. Es sei bereits gelungen, die Pass-Egal-Wahl in fast allen Bundesländern umzusetzen. Doch bezüglich rechtlicher Veränderungen stellt sich SOS Mitmensch auf eine längere Perspektive ein. Seit der Verfassungsgerichtshof den Bund für das Wahlrecht zuständig erklärt hat, sei die Kampagnisierung schwerer geworden, meint Pollak. Das Thema werde wegen der steigenden Zahl an Betroffenen immer virulenter, „aber wenn keine Chance auf Umsetzung besteht, nimmt das tagespolitische Interesse ab“.

Auch Fanny Müller-Uri, die 2013 an Wahlwexel-Jetzt beteiligt war, räumt eine gewisse Themenkonjunktur ein. Aber eine Alternative zum Einfach Machen sieht sie nicht: „Wenn man ein Politbüro führt, kann man sich Gedanken über den besten Zeitpunkt machen, wenn man hier wohnt und nicht wählen darf, hat das Thema immer Konjunktur.“ Ein großes Angebot an unterschiedlichen Kampagnen für die unterschiedlichen Ansprüche hält sie für nützlich. Dabei gehe es durchaus auch handgestrickt. „Leute müssen das machen was in ihrem Rahmen möglich ist, sonst wird das ja auch zu anstrengend.“ Eines ist Müller-Uri noch wichtig: Wer das Wahlrecht ändern wolle, müsse zwangsläufig bei lokalen Wahlen ansetzen, aber auf Dauer mache die Arbeit ohne transnationale Vernetzung wenig Sinn. 

Das ist ein gutes Stichwort. Denn die Einheit von Territorium, Staatsvolk und Herrschaft – und mit ihr das demokratische Versprechen – ist noch auf eine weitere Weise in Frage gestellt. Die Folgen demokratischer Entscheidungen machen nicht an Staatsgrenzen halt. Das gilt nicht erst seit dem Klimawandel. Verlangt das demokratische Versprechen nicht nach Einbeziehung von Betroffenen, auch wenn sie sich nicht auf dem Staatsgebiet befinden? 

Womöglich ist diese Überlegung ein Fass ohne Boden, doch die Politologin Tamara Ehs kann durchaus Beispiele nennen, wo schon heute Betroffene von extern in Politikentscheidungen involviert werden. Sie verweist etwa auf zwei Konventionen der Vereinten Nationen, die Aarhus-Konvention und die Espoo-Konvention. Diese regeln den Zugang zu Information, Beteiligungsverfahren und Gerichten in Umweltfragen sowie die Beteiligung von Regierungen und Bevölkerungen an UVP-Verfahren in anderen Staaten. Die Konventionen räumen Betroffenen von umweltbezogenen Entscheidungsverfahren grenzüberschreitende Beteiligungsrechte ein und verpflichten Regierungen zu Informationspolitik über die Landesgrenzen hinweg. Ehs nennt auch die Parlamentarischen Dienste, welche auf technischer Ebene Rechtsfolgenabschätzung für die Gesetzgebung betreiben und mitunter die Interessen von Betroffenen erheben, die nicht parlamentarisch repräsentiert sind. „Es wäre vorteilhaft, könnten wir die Rechtsfolgenabschätzung um eine Demokratiefolgenabschätzung ergänzen“, sagt die Politologin. 

Müller-Uri und ihre MitstreiterInnen haben noch keine konkreten Pläne mit Wahlwechsel. „Aber bei den kommenden Europa- oder Wienwahlen, da würde es sich schon lohnen, die Kampagne wieder aufzunehmen.“ Schon einmal haben AktivistInnen die Idee von Wahlwechsel aufgegriffen und es selbst als Kampagne umgesetzt. Das könnte ja wieder passieren.

Dieser Beitrag wurde für Die Stimme von und für Minderheiten Nr #108 geschrieben und dort veröffentlicht.

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