Versteherinnen-Versteherinnen

Über den Versuch, das Verstehen und die Verständigung zu diskreditieren. Und warum Versteherinnen-Versteherinnen gefragt sind.

Mit seinem Gedankenexperiment verdeutlichte der österreichische Physiker Erwin Schrödinger 1935, dass Beobachterinnen den "wirklichen" Zustand eines Objekts nicht bestimmen können.

Frauen-Versteherin ((Männer werden mitgemeint)). Putin-Versteherin. Pali-Versteherin. „Verstehen“ ist nun also endgültig als Schimpfwort in den medialen Sprachgebrauch eingegangen. Google-Trends gibt für den Begriff „Frauenversteher“ in Deutschland den ersten Peak mit Oktober 2005 an. Im April 2008 taucht in Die Welt ein herabsetzendes „Grünen-Versteher“ auf, 2009 richtet Marianne Birthler – Bundesbeauftragte für Stasi-Akten in Deutschland – in Die Zeit einen offen Brief an die „Liebe[n] Ossiversteher“. Für Mai 2012 ist ein noch neutrales „Russland-Versteher“ in Die Welt verbürgt. Spätestens mit der Krim-Krise im Februar 2014 schwappte die missbilligende Verwendung des Versteher-Begriffs (wieder über Die Welt) in den allgemeinen medialen Sprachgebrauch. Vor kurzem bemühte nun ein österreichischer Kommentator den „Pali-Versteher“.

Wieso wurde „verstehen“ zum Schimpfwort und wer hat an dieser Entwicklung Interesse? Ein Erklärungsversuch.

In der Soziologie ist Verstehen ein umfangreich besprochener Begriff. „Menschen handeln Dingen gegenüber aufgrund der Bedeutung, die sie diesen Dingen zuschreiben und diese Bedeutung entsteht in sozialer Interaktion“, sagte der amerikanische Soziologe Herbert Blumer Ende der 60er (( Herbert Blumer: Symbolic Interactionism. Perspective and Method, Englewood Cliffs, New Jersey 1969. Als pdf )). Wer Verhaltensweisen von Menschen nachvollziehen will, muss demnach untersuchen, welche Bedeutung Menschen oder Kollektive mit ihrem Verhalten verbinden – sowie die Erfahrungen und Interaktionen, auf denen die jeweils eingenommene Perspektive gründet. Von Gegnerinnen bringt dieser Zugang der interpretativen Schule den Vorwurf des Subjektivismus ein. In deren naturwissenschaftlichem Verständnis von Wissenschaft gibt es (trotz Quantenmechanik) nur eine Wahrheit.

Falken und Tauben

In politischen Debatten tummeln sich Falken und Tauben. Falken trachten danach, ihre eigenen Interessen auch gegen Widerstände durchsetzen. Sie suchen keine Kompromisse und schrecken auch vor gewaltvollen Strategien nicht zurück. Ihr Diskursverhalten dient der maximalen Umsetzung eigener Absichten: sie fragen nicht und analysieren nicht, sie stellen fest und geben Nachdruck.

Zwischentöne, Mehrdeutigkeit und unterschiedliche Perspektiven sind Falken ein Gräuel. Es gibt nur eine Wahrheit, Ursachenforschung betreiben sie zur Klärung der Schuldfrage. Konflikte sind eine Frage von Gut und Böse, deshalb verlangen Falken von ihrem Umfeld, sich auf (die) eine Seite zu stellen. Durch Mediation werden Konflikte in den Augen von Falken nur verschleppt. Wirkungsvoll beigelegt werden sie durch den Sieg; wenn eine Seite sich durchsetzt und die andere aufgibt: The winner takes it all. Das gesellschaftliche Ordnungsprinzip der Falken ist die Konkurrenz.

Tauben hingegen müssen sich nicht auf ganzer Linie durchsetzen; sie sind um Ausgleich bemüht. Konflikte verstehen sie als Ausdruck unterschiedlicher Interessen in freien Gesellschaften und nicht als Folge schuldhafter Handlungen. Deshalb halten sie nicht stur an der eigenen Position fest und bemühen sich um eine ausgewogene und nachhaltige Beilegung. Ein Konflikt ist wirksam gelöst, wenn alle Beteiligten damit gut leben können. Tauben beziehen unterschiedliche Wahrheiten ein und lassen gegensätzliche Standpunkte gelten. Sie wollen dazu die Sicht aller Parteien ergründen und verstehen.

An gesellschaftspolitischen Konflikten interessiert sie weniger „wer angefangen“ hat und zu bestrafen sei, als welche sozio-ökonomischen Hebel zur Verfügung stehen, um Gesellschaft für die Zukunft zu verändern. Ihr gesellschaftliches Organisationsprinzip ist die Kooperation. Verstehen und Verständigung sind ihre Techniken der Konfliktbeilegung.

Versteherinnen-Versteherin

Nach Gutmensch und Opfer wurde nun also auch Versteherin zum Schimpfwort. Erneut ist es den Falken gelungen, ein Stück Sprache zu etablieren, das die Tauben diskreditiert. Die Falken wollen der Allgemeinheit ihre Rede von der einen Wahrheit und der Durchsetzung als Konfliktlösung unterjubeln. Nicht nur die jeweilige Gegenseite, auch Ambivalenz und Ausgleich sind Ziel ihrer Angriffe. In dieser Situation sind Versteherinnen-Versteherinnen gefragt. Menschen, die sich öffentlich zu Ausgleich, Verstehen und Verständigung bekennen. Stärken wir die Tauben. Gerade bei den Konflikten in der Ukraine und Gaza ist ihre Stimme zu leise. Auf sozialen Medien, aber auch in der veröffentlichten Meinung in Print, Funk und Fernsehen. Es fehlt an Vermittlungs-, nicht an Durchsetzungskraft.

Weiterführende Beiträge:

Ein Gedanke zu „Versteherinnen-Versteherinnen“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert