Menschenrechte ernten

Der Politologe Heinz Theisen will „nicht mehr Demokratie und Menschenrechte exportieren“, sondern nur noch „totalitäre Bewegungen“ bekämpfen – dafür Seite an Seite mit autoritären Regimen. Nur durch die Verdrehung wesentlicher Details gelingt im das Plädoyer für einen außenpolitischen Paradigmenwechsel, der sich noch als Boomerang erweisen könnte.

Österreichs Aussenminister Sebastian Kurz zu Besuch bei Abd al-Fattah as-Sisi. Der "Feldmarschall" führte den ägyptischen Militärputsch 2013 an und unter seiner Herrschaft wurden 500 Oppositionelle zum Tode verurteilt. Foto: Dragan Tatic - BMEIA, BY 2.0 via Wikimedia Commons

„Die Strukturen der liberalen Demokratie beruhen auf kulturellen Voraussetzungen.“ Dieser Satz des deutschen Politologen Heinz Theisen im Cicero- Aufsatz „Wer Demokratie exportiert, sät Anarchie“ ist ein perfekter Debatten-Trigger. Er ist wahr und falsch zugleich. Wer ihn als Beschreibung der Wirklichkeit lesen will, wird unzählige Belege für seine Richtigkeit finden. Das menschenrechtlich geschulte Ohr wird freilich aufhorchen. Transportiert doch die Behauptung neben ihrem deskriptiven Charakter auch einen normativen Gehalt. Allzu oft werden Einschränkungen von Demokratie und Menschenrechten (DMR) mit Hinweis auf ihre Unvollkommenheit gerechtfertigt.

Kampf gegen Islamismus statt Demokratie und Menschenrechte?

Und tatsächlich. Der Autor plädiert im Artikel anhand der Krim-Frage für einen zurückhaltenderen Kurs gegenüber Autokratien. „Der Westen“ sei nicht mehr stark genug, DMR „zu exportieren“. Eine „vorzeitige Demokratisierung“ habe Chaos und Anarchie über Kaukasus, Balkan und Nahen Osten gebracht. Und die Ägypter/innen hätten sich nach einem „Hin und Her“ zwischen Diktatur, Demokratisierung und Islamisierung wieder für Stabilität und die Rückkehr zur autoritären Herrschaft „entschieden“.

Theisen will die Paradigmen ändern: Nicht DMR sollen Leitplanke westlicher Außenpolitik sein, sondern lediglich ein – wie er es nennt „zivilisatorisches Mindestmaß“, nämlich die Trennung von Kirche und Staat.

Angesichts der Schwäche „des Westens“ möge dieser von politischem Universalismus absehen und mit autoritären Staaten „Bündnisse für die Zivilisation“ aufbauen. Gemeint ist damit die Koalition mit Autokrat/innen gegen einen „totalitären Islamismus“ im Kampf der Kulturen. „Autoritäre Regime sind das kleinere Übel als totalitäre Bewegungen“, erklärt Theisen und muss wohl meinen: Mit Putin gegen die Tschetschen/innen, mit Al-Sisi gegen die Muslimbrüder und mit Xi gegen die Uigur/innen. (Mit Blick auf Österreichs Geschichte ist man versucht anzumerken: Mit Schuschnigg gegen den Nationalsozialismus.)

Verdrehte Tatsachen

Diese Argumentationslinie gelingt nur mit einem Kunstgriff, der die Tatschen in wesentlichen Details verdreht. Westliche Außenpolitik verkauft Theisen taxfrei als Export von DMR –  ungeachtet nationaler Eigeninteressen oder Vereinbarkeit mit internationalem Recht. Die Zurückweisung westlicher Einflusssphären-Politik in der Ukraine, in Ägypten oder dem Irak muss unter dieser Annahme als Ablehnung des Exportgutes DMR erscheinen. In den Worten Theißens: „Der westliche Universalismus wird daher von anderen Werteordnungen als Provokation empfunden.“

Während der Autor also DMR zu einem exklusiven Hobby des Westens verniedlicht, bläst er die Trennung von Kirche und Staat zum allseits anerkannten, zivilisatorischen Mindestmaß auf. Weder das Recht auf Leben, die Meinungsfreiheit, noch das Recht auf Nahrung oder Wohnen scheinen wichtiger, wenn es darum geht, den „Faschismus des 21. Jahrhunderts“ zu bekämpfen. Nebenbei: auch empirisch steht die These von der Hegemonie des antitotalitären Säkularismus auf schwachen Beinen.

Die Existenz der Menschenrechte wird universell anerkannt

Zunächst ein paar Klarstellungen zum Menschenrechtsschutz. Auch wenn ihre Entstehung im postkolonialen Umfeld nicht unterschlagen werden darf, wird das Bestehen der Menschenrechte heute von fast allen Staaten anerkannt. Im UN-Zivilpakt sind die bürgerlichen und politischen Grundrechte von den Signatarstaaten völkerrechtlich verbindlich vereinbart. Bis auf ein paar Ausnahmen bekennt sich die Staatengemeinschaft zu dieser Konvention. Ähnliches gilt für den UN-Sozialpakt, der die kulturellen, sozialen und ökonomischen Grundrechte festschreibt.

Mitunter wird die weltweite Bekenntnis zu den Menschenrechte mit dem Argument in Zweifel gezogen, dass sie in großem Ausmaß verletzt werden und die Praxis staatlichen Handelns nicht mit den unterzeichneten Konventionen übereinstimmt. Diese Einschätzung beruht auf einem verkürzten Verständnis von Recht. Wie auch ein Dieb die Existenz eines Strafrechts begrüßen kann, deuten Verletzungen von Menschenrechte nicht zwingend auf deren grundlegenden Ablehnung hin. Recht bietet Verfahren zur Beilegung von Konflikten, es verheißt nicht deren Beseitigung.

Weltkarte bezüglich des UN-Zivilpaktes: ratifiziert (dunkelgrün); unterzeichnet, aber nicht ratifiziert (hellgrün); nicht unterzeichnet und nicht ratifiziert (grau) (Stand 25. Nov. 2008) By IdiotSavant [Public domain], via Wikimedia Commons
Weltkarte bezüglich des UN-Zivilpaktes: ratifiziert (dunkelgrün); unterzeichnet, aber nicht ratifiziert (hellgrün); nicht unterzeichnet und nicht ratifiziert (grau) (Stand 25. Nov. 2008) By IdiotSavant [Public domain], via Wikimedia Commons

Man darf auch nicht übersehen, dass die Verletzung von Menschenrechten kein Exklusiv-Thema „der anderen“ ist. Dies wird im Westen gerne behauptet, weil die Durchsetzung von bürgerlichen und politischen Rechten in den liberalen Demokratien weiter fortgeschritten ist. Allerdings werden im Westen gerne die kulturellen, sozialen und ökonomischen Rechte unter den Teppich gekehrt – zu deren „fortschreitender Verwirklichung“ sich die Signatarstaaten „im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten“ verpflichtet haben. Eine Aufgabe, der etwa im autoritären Vietnam weit mehr Aufmerksamkeit und Budget-Anteile gewidmet wird, als in vielen westlichen Staaten.

So wie die Menschenrechte nicht vom Rest der Welt abgelehnt werden, so werden sie auch nicht vom Westen befolgt: Die Fronten verlaufen quer. Auch in Europa und den USA forcieren immer wieder Partikularinteressen das Zurückdrängen des Menschenrechtsschutzes. Ob Österreich das Asylrecht aushöhlt, die Bush-Regierung Folterpraktiken legitimiert, ob EU-Wirtschaftseliten das politische System Chinas als Modell für Europa diskutieren oder ob ein katholischer Politologe den Islamismus eindämmen will – eher selten sind es die verletzlichen Bevölkerungsgruppen, die von einer Schwächung profitieren würden.

Demokratie nur unter kulturellen Voraussetzungen?

Auch den Demokratiebegriff des Theisen möchte ich nicht so stehen lassen. Die Idee, eine Gesellschaft müsse zunächst einen bestimmten Reifegrad erlangen, bevor man ihr Demokratie überantworten könne, ist einigermaßen skurril. Denn das demokratische Menschenbild gründet geradezu auf der Annahme, dass Individuen und Kollektive Fehler machen müssen, um daraus zu lernen. Wie soll eine Gesellschaft von den Effekten ihres kollektiven Handelns lernen, wenn sie nicht kollektiv handeln kann?

So wie die westlichen Revolutionen mit reaktionären Rückschlägen fertig werden mussten, kämpft auch der arabische Frühling mit dem Zurückschwappen der Vergangenheit. Wenn sich Theisen nun wegen der Muslimbrüder mit dem ägyptischen Militärregime verbünden will, dann fällt er den demokratischen Kräften in den Rücken und stellt sich neben jene, die hoffentlich einmal wegen der Ermordung Oppositioneller und anderer schwerer Verbrechen vor Gericht stehen werden. Je eher sich die demokratische Opposition gegen alle autoritären und totalitären Kräfte durchsetzen wird, desto geringer wird der Blutzoll durch ein „Hin und Her“, den Theisen ja vermeiden will.

Denn tatsächlich scheint die Entwicklung der Weltgesellschaften in die Moderne recht linear zu verlaufen. Das legen zumindest Studien der Demographen Youssef Courbage und Emmanuel Todd nahe ((Youssef Courbage, Emmanuel Todd: Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern. 2008, Piper.)), die einen engen (zeitlichen) Zusammenhang zwischen den Variablen Alphabetisierungsgrad der Frauen, Geburtenrate, Säkularisierung und Demokratisierung aufzeigen. Die großen Unterschiede innerhalb muslimischer oder christlicher Gesellschaften hängen auffallend mit der Verbreitung patriarchaler Familiensysteme zusammen.

Wenn schon Totalitarismus bekämpfen – dann richtig.

Fassen wir zusammen: DMR sind kein Match des Westens gegen den Rest der Welt. Millionen Menschen weltweit profitieren davon, dass sich die Staatengemeinschaft zu ihnen bekennt. Ohne Not von ihrer Durchsetzung abzulassen, wirkt einigermassen frivol. Selbst wer den Kampf gegen totalitäre Bewegungen ins Zentrum seiner Bestrebungen rückt, findet in der Verwirklichung grundlegender Menschenrechte – beginnen wir einmal mit Nahrung, Bildung und Arbeit – taugliche Instrumente. Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Teilhabe-Chancen und Resistenz gegen Totalitarismus ist evident. Die Unterstützung von autoritären Regimen könnte sich dem zufolge als ziemlicher Bumerang erweisen. Befeuern totalitäre Strömungen ihre Anziehungskraft doch meist mit dem Verweis auf gravierende Ungerechtigkeiten, die den Angesprochenen gerade in autoritären Staaten nicht selten tatsächlich widerfahren. Die erfolgreichste Methode, Demokratie und Menschenrechte zu ernten, ist immer noch Demokratie und Menschenrechte zu säen.

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