Material-Animation

Die Eskalation am Karlsplatz ist auch das Versäumnis einer Stadtpolitik, die die Bespielung des öffentlichen Raums weitgehend Gastronomie und Polizei überlässt.

Polizei in Schildrötenformation am Karlsplatz Bild: Christopher Glanzl
Eine Einheit der Wiener Polizei vor der Wiener Karlskirche in Schildkrötenformation. Bild: Christopher Glanzl

Material-Animation. Der Begriff stammt angeblich aus der Elementarpädagogik. Und bedeutet folgendes: bekommt ein Kind einen Gegenstand, es wird ihn sich aneignen und verstehen lernen. Gibst du ihm einen Hammer, wird sich seine Funktion dem Kind erschließen. Es wird damit hämmern.

Das Konzept der Material-Animation erklärt wahrscheinlich ganz gut, was letzte Freitagnacht am Karlsplatz geschah. Eine Polizeieinheit ging in die feiernde Menschenmenge. Die Bilder erinnern an römische Soldaten in einem Asterix-Comic. Mit Helmen und geschlossenen Schildern drängte der Pulk in die singende Menge. Es kam zu Rempeleien, bald flogen die ersten Flaschen. Die Jugendlichen hatten die Funktion der Schilder erfasst.

Um es auszusprechen: Die Schutzausrüstung rechtfertigt keine Flaschenwürfe. Und der Polizei vorzuwerfen, dass sie ihre Beamt*innen schützen will, wäre absurd. Andererseits kann die Polizei nicht ignorieren, was sie mit ihrer Aufmachung auslöst.

Die Polizei begründet den Einsatz mit betrunkenen Jugendlichen, die auf die Statuen vor der Kirche geklettert waren. Wenn sie das nur in Schildkrötenformation bewerkstelligen kann (und damit erst zum Auslöser von Flaschenwürfen wird), dann ist die Polizei vielleicht nicht die geeignete Institution für diese Aufgabe.

Versäumnisse der Stadt Wien

Der Vorfall illustriert einen weiteren Dauerbrenner der Sicherheitspolitik. Generell überlässt die Politik zu viele Aufgaben der Polizei. Kein Wunder: 30.000 Bedienstete stehen 24/7 bereit. Man verlässt sich gerne auf die Polizei, die Polizei nimmt diese Rolle bereitwillig an.

Es ist auch ein Versäumnis der Stadtpolitik, dass die Situation am Karlsplatz eskaliert ist. Die Stadt müsste den öffentlichen Raum aktiv bespielen, sodass feiernde Jugendliche erst gar nicht zum „Sicherheitsproblem“ werden. Dass sich Sozialarbeiter*innen besser eignen, um Betrunkene von Denkmälern zu holen, hat jetzt auch den zuständigen Stadtrat zum Einsatz von Awareness-Teams bewogen.

Aber da ginge noch mehr: schon minimale Interventionen wie beaufsichtigte WC-Anlagen, ausreichend Mistkübel oder Personen, die Flaschen einsammeln, können die Atmosphäre eines Platzes entscheidend verändern. Material-Animation als Anreiz für rücksichtsvolles Verhalten. Dabei muss die Gestaltung gar nicht von oben kommen. Mit etwas Vorausschau lässt sich die Bespielung von öffentlichen Räumen auch Bottom-up organisieren.

Das setzt den politischen Willen voraus, den öffentlichen Raum nicht Gastronomie und Polizei zu überlassen. Und es braucht Institutionen, die das Know-How, die Kapazitäten und die Befugnis haben, den öffentlichen Raum abseits von Konsumations- und polizeilichem Zwang zu formen.

Polizei in Schildrötenformation am Karlsplatz Bild: Christopher Glanzl
Polizei in Schildrötenformation am Karlsplatz Bild: Christopher Glanzl

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