Als die Polizei die Demonstration auflöste, wollte Liliana L. den Platz so schnell wie möglich verlassen. Sie zwängte sich durch einen Spalt in der Hecke, um aus dem Gefahrenbereich in einen benachbarten Park zu gelangen. Nichts ahnend kassierte sie auf der anderen Seite drei Schläge mit dem Schlagstock eines Polizisten, der mit weit ausholenden Hieben die Menge zu zerstreuen suchte. Die 24-Jährige wurde am rechten Knie, am rechten Ellenbogen und am rechten Zeigefinger verletzt. Am nächsten Tag erstattete sie in Begleitung ihrer Mutter Anzeige auf einer Polizeiinspektion. Doch die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren rasch ein. Es sei keine Misshandlungs- oder Verletzungsabsicht erkennbar.1Sonderegger, P. (2021): Mayday-Demo. Keine wirksame Aufarbeitung von Polizeigewalt am 1. Mai 2021. Gutachten im Auftrag von Amnesty International Österreich. Wien, Amnesty International, S. 14. https://www.amnesty.at/presse/amnesty-kritisiert-klima-der-straflosigkeit-bei-polizeigewalt-in-oesterreich/
Nicht alles, was die Staatsanwaltschaft einstellt, ist deswegen auch gleich in Ordnung. Wer sich von einer Behörde schlecht behandelt fühlt, kann sich an die Volksanwaltschaft wenden. Schon bei einer groben Unhöflichkeit wird sie tätig. Dabei genießt die Ombudsstelle hohes Ansehen. Bei Umfragen erfährt sie unter den öffentlichen Einrichtungen höchsten Zuspruch. War Frau L. auf die Idee gekommen, sich bei der Volksanwaltschaft zu beschweren? „Nein. Bei einem FPÖ-Volksanwalt habe ich auch kein besonders großes Vertrauen in die Unvoreingenommenheit gegenüber der Polizei.“
Das trifft einen wunden Punkt. Parteien-Proporz in der Verwaltung löst beim Publikum meist nicht mehr als ein Schulterzucken aus. Aber sollten nicht wenigstens die Kontrollor:innen unabhängig sein und allen Anschein von Parteipolitik ausschließen? Menschenrechte sind für alle da, aber verletzliche Gruppen und an den Rand Gedrängte müssen auf ihren Schutz besonders vertrauen können.
Von der Ombudsstelle im Proporz-Staat zum Menschenrechtshaus der Republik
Die Volksanwaltschaft wurde 1977 als Kontrollorgan des Nationalrates eingerichtet, um Missstände in der Verwaltung aufzuzeigen. Sie besteht aus drei Mitgliedern, die jeweils von einer der drei stärksten Parteien im Nationalrat vorgeschlagen werden. Mit medialer Begleitmusik der ORF-Sendung „Ein Fall für den Volksanwalt“ erarbeiteten sich die Ombudsleute schnell ihren guten Ruf als Treuhänder:innen der Probleme kleiner Leute, die mit bürokratischer Übermacht und Ignoranz kämpfen.
Dass von jeder Farbe jemand dabei ist, galt in der Proporz-Logik der Nachkriegszeit als Garant dafür, dass keine Reichshälfte die andere verschont. Doch nicht nur die Parteienlandschaft und der Ruf des Proporz-Systems sind den 1970ern entwachsen. Auch das Aufgabenspektrum der Volksanwaltschaft hat sich verändert. So ist sie seit 2012 auch für die Folterprävention in Österreich zuständig. Den gewöhnungsbedürftigen Titel Nationaler Präventionsmechanismus (NPM) hat die Volksanwaltschaft selbst übersetzt in „Menschenrechtshaus der Republik.“
Mit dem sogenannten OPCAT-Übereinkommen haben sich aktuell 94 Staaten der Welt gegenseitig verpflichtet, eine unabhängige Stelle einzurichten, die alle Orte regelmäßig kontrolliert, an denen Menschen festgehalten werden. Psychiatrien, Pflegeheime oder Gefängnisse werden besucht, um Standards zu empfehlen, die Verletzungen der Menschenrechte weniger wahrscheinlich machen. Sichtschutz bei Untersuchungen in Haft, Abschaffung von Netzbetten oder gerechte Entlohnung in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen – es sind kleinere und größere Schrauben, an denen die Kontrollor:innen drehen, um die Stellung besonders vulnerabler Personengruppen zu stärken. Und Menschenrechtsverletzungen zu verhüten.
Hohe Qualitätsstandards in der Folterprävention
Das OPCAT-Protokoll ist eine Ergänzung zur Anti-Folterkonvention der Vereinten Nationen (CAT) und seine Umsetzung wird von einem Komitee überwacht. Staaten, die sich mit einem Beitritt schmücken wollen, müssen strenge Richtlinien einhalten. Ein Nationaler Präventionsmechanismus muss völlig unabhängig arbeiten und den zivilgesellschaftlichen Menschenrechtssektor einbinden. Die Stelle braucht einen klaren rechtlichen Auftrag und muss ausreichend finanziert sein.
Zuletzt wurde Österreich von dem Komitee aufgefordert nachzubessern; die Diversität der Volksanwaltschaft zu erhöhen, die Zivilgesellschaft besser einzubinden und den Bestellmodus der Volksanwält:innen zu verbessern. Die Besetzung der Chefetage müsse nach benötigten Kompetenzen erfolgen, die Auswahl transparent und offen für Bewerber:innen außerhalb der Politik sein, um die geeignetsten Köpfe zu finden. Die Unabhängigkeit der obersten Prüfer:innen der Menschenrechte ist sicherzustellen und das öffentliche Vertrauen in die Unparteilichkeit der Einrichtung zu garantieren.
Lange bekannte Defizite gesetzlich sanieren
Vielfach haben Expert:innen und Menschenrechtsorganisationen den Bestellmodus kritisiert. Insbesondere an Ex-Volksanwalt Walter Rosenkranz entzündete sich die Kritik auch öffentlich. Nicht bloß führte er den Anspruch der parteipolitischen Unparteilichkeit mit wiederholten Kandidaturen als Volksanwalt auf einem FPÖ-Ticket ad absurdum. Den Nationalrats-Wahlkampf 2024 bestritt die FPÖ mit dem Programm, die Abkommen und Gerichte des internationalen Menschenrechtsschutzes zu schwächen.2Festung Österreich, Festung der Freiheit. Wahlprogramm für die Nationalratswahl 2024, Wien, Freiheitliche Partei Österreichs. S. 11. https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/NRW2024/PDF/Wahlprogramm_A4_Kurzversion_oS_web.pdf
Neben Kritik versuchen es die Organisationen aus der Zivilgesellschaft auch mit Pragmatismus. Jene NGOs, die Mitglieder für den Menschenrechtsbeirat der Volksanwaltschaft nominieren, zeigen, wie es gehen könnte. In einem aufwändigen Prozess haben sie eine kompetenzorientierte, transparente, offene und inklusive Auswahl der künftigen Mitglieder durchgeführt.
Auch die Volksanwaltschaft selbst hat bereits Anstrengungen unternommen, um den Empfehlungen nachzukommen und die Zivilgesellschaft vermehrt einzubinden. Nun liegt es an der kommenden Regierung, den Bestellmodus der Volksanwält:innen zu reparieren. Damit Liliana L. sich zukünftig im Vertrauen an die Volksanwaltschaft wenden kann. Die Weichen dafür müssen diejenigen, die Koalitionen verhandeln, jetzt stellen. Die Amtsperiode der aktuellen Besetzung endet am 30. Juni 2025.
Zuerst veröffentlich am 22. November 2024 in Mo – Magazin für Menschenrechte von SOS Mitmensch.

