Agent Provocateur im Votivpark

Wenn die Polizei selbst Anlass zur Eskalation gibt, kann sie die Versammlungsfreiheit nicht schützen. Die Polizeikolumne im aktuellen Mo-Magazin für Menschenrechte.

Ein Zivilpolizist in szenetypisch rechter Kleidung auf der Mayday-Versammlung am 1. Mai 2021 im Votivpark.
Ein Zivilpolizist in szenetypisch rechter Aufmachung auf der Mayday-Versammlung am 1. Mai 2021 im Votivpark. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Presse Service Wien

Die Expert*innen der Venedig-Kommission entwickeln Standards zu Grundrechtsfragen. Die finden Eingang in die Rechtssprechung des EGMR, dem wichtigsten Menschenrechtsgericht in Europa. Anfang der 2000-Jahre verabschiedete die Kommission Richtlinien zum „polizieren“ von friedlichen Versammlungen. Diese sind heute europäischer Rechtsbestand. ((Frumkin v. Russia, no. 74568/12, § 80, 5 January 2016))

Dem Europarat gehören Länder wie Aserbaidschan, die Türkei oder Russland an. Die empfohlen Standards sind also durchaus wetterfest. Die Versammlungsfreiheit soll auch geschützt sein, wenn staatliche Stellen sie sabotieren wollen. Eine beliebte Methode ist das Einschleusen von agents provocateurs, die mit Gewalttaten eine Auflösung der Versammlung provozieren. 

Einzelne Straftaten kein Auflösungsgrund

Daraus wurde der Grundsatz abgeleitet, dass niemand sein Recht auf friedliche Versammlung verliert, weil einzelne Person Straftaten verüben. ((Primov and Others v. Russia, no. 17391/06, § 155, 12 June 2014)) Die Polizei muss Mittel und Wege suchen, die Versammlungsfreiheit jener zu schützen die friedlich bleiben wollen, während sie jene stoppt, die Gewalt ausüben.  ((Plattform “Ärzte für das Leben” v. Austria, no. 10126/82, § 32 and § 34, 21 June 1988))

Das bedeutet auch, die Polizei darf nicht selbst zum Auslöser einer Eskalation werden. Klar, soziale Interaktionen sind „komplex“. Wer einen Streit angefangen hat, ist meist selbst Gegenstand des Streits. Aber manchmal liegen die Dinge einfacher. Wie bei der „Mayday“-Versammlung am 1. Mai im Votivpark: wenn sich ein Zivilpolizist in szenetypisch rechter Aufmachung unter eine linke Demo mischt, kann man getrost davon ausgehen, dass er Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Dabei ist unerheblich, ob absichtlich provoziert oder einfach nur patschert.

Ob der Zivilpolizist tätlich angegriffen wurde und der Einsatz von Pfefferspray gegen Teilnehmer*innen der Kundgebung verhältnismäßig war, wird die gerichtliche Aufklärung ergeben. Man kann aber jetzt schon sagen, dass die Bekleidung des Zivilpolizisten Anlass für eine Aufschaukelung war, die viele Verletzte forderte und fast zur Auflösung der Versammlung führte. Die Polizei verstößt damit gegen ihre gesetzliche Pflicht, die Versammlungsfreiheit von friedlichen Teilnehmer*innen zu schützen.

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