Die Kraft der Würde

Die Würde als Kraft sozialer Veränderung, eine konstruktivistische Begründung universeller Rechte und ein Plädoyer für den weltumspannenden Menschenrechtsstaat. Drei Buchempfehlungen für Menschenrechtler*innen in den Sommermonaten.

Berber CC BY-ND 2.0 Mr Seb
Ein Berber in Marokko, der als Guide für Touristen arbeitet, 2013. Bild: Mr Seb CC BY-ND 2.0

Auf Ö1 war kürzlich folgende Anekdote zu hören. Für Aufnahmen zu einem James Bond Film in Marokko wurden Berber als Statisten engagiert. Als um 10 Uhr der Dreh beginnen sollte, war keiner gekommen. Der Set stand still. Eine kostspielige Angelegenheit. Zu Mittag tauchten die Silhouetten von Kamelen am Horizont auf, es dauerte noch Stunden, bis die Wüstenbewohner am Drehort eintrafen. Die wutentbrannte Aufnahmeleiterin ließ die Berber zur Rede stellen. Nach einer weiteren Stunde überbrachte der Dolmetscher die knappe Antwort: „Berbers are never late“.

Würde als Ressource für sozialen Wandel

In der Menschenrechtsbewegung ist die Würde des Menschen für gewöhnlich ein passives Konzept, es dient der Verteidigung von Rechten. Mit der menschlichen Würde wird die Abwehr von Eingriffen begründet, die als Verletzung der unveräusserlichen menschlichen Integrität gesehen werden.

Dagegen wirbt Gerald Hüther für die Entdeckung der Würde als Ressource sozialen Wandels, also der Veränderung von Normen. Der Neurobiologe hat schon einige populärwissenschaftliche Bestseller geschrieben.  Hüther versteht Würde als die innere Freiheit selbst zu bestimmen, welcher Mensch ich sein will – gekoppelt an die Verantwortung für meine persönliche Entfaltung als Person in einer Gemeinschaft. Menschen, die sich ihrer Würde bewußt geworden sind, sind unbestechlich, sagt Hüther.

Mit diesem Perspektivenwechsel verschiebt sich in unserer Anekdote der Fokus von der vergeudeten Zeit der Filmcrew hin zum stillen Aufbegehren der Berber gegen Zeitdruck und Erwerbslast. Dabei steht der Anspruch der Filmcrew auf Pünktlichkeit im Konflikt mit dem Wunsch der Berber auf wüstengerechte Gemächlichkeit.

Führt diese Betonung des Widerspruchs zur gesellschaftlichen Ordnung nicht automatisch zum Recht der Stärkeren? Nein, wie auch im klassischen Verständnis beschreibt Hüther Würde als universelles Konzept. Nur wer die Würde anderer achtet, kann in Würde leben, sagt er.

Was du nicht willst, das man dir tut, …

Mit dem Ausgleich divergierender Vorstellungen vom würdevollen (Zusammen-)Leben beschäftigt sich die amerikanische Professorin für Politische Theorie Seyla Benhabib. Die istanbuler Familie der sephardischen Jüdin kann ihre Vorfahren in der Stadt bis 1492 zurück verfolgen. Im Anschluss an die Goldene Regel „Was du nicht willst, das man dir tut, …“ begründet sie ihren Ansatz der „kommunikativen Freiheit“.

Wenn wir nicht nur die innere Freiheit anderer Menschen anerkennen, das würdevolle Leben zu imaginieren, sondern auch ihre prinzipielle Fähigkeit, diese Vorstellung argumentativ zu begründen und auszuhandeln – dann lassen sich individuelle Ansprüche in den Institutionen demokratischer Öffentlichkeit, Politik und Justiz zu mehr oder weniger allgemein verbindlichen Regeln festlegen, so Benhabib. Doch das birgt die Zumutung ständigen Hinterfragens des Bestehenden und endloser Erläuterung des bereits Geklärten.

Der Menschenrechtsstaat

Benjamin Gregg propagiert den kommunikativ begründeten Menschenrechtsansatz von Benhabib auf radikale Weise. Der amerikanische Professor für Politische Theorie war Fulbright Visiting Professor in Krems. Er vertritt ein Modell der Menschenrechte von unten, das weniger auf Zwang den auf Überzeugung gründen. Die Menschenrechtsbewegung solle sich auf die deliberative Ausgestaltung von Menschenrechten im lokalen Kontext konzentrieren, und dann erst auf deren Integration auf nationaler und internationaler Ebene – statt umgekehrt.

Gregg veranschaulicht seinen kontroversiellen Ansatz mit dem Bild eines weltumspannenden Menschenrechtsstaates. Dieser Staat existiert parallel und in Ergänzung zu den Nationalstaaten. Alle Menschen können ihm beitreten, die Benhabibs Grundsatz folgen. Wenn sie also die prinzipielle Fähigkeit von Menschen bejahen, allgemeine Rechtsansprüche mit Argumenten auszuhandeln. Gregg skizziert mit dem Menschenrechtsstaat ein Netzwerk von AktivistInnen, die auf lokaler Ebene Rechtsansprüche für alle etablieren, ohne dabei die Souveränität der Nationalstaaten in Frage zu stellen. Eine Art Malteserorden der Meschenrechtsbewegung.

Seyla Benhabib: Kosmopolitismus ohne Illusion, 2016. Suhrkamp.

 

 

 

 

 

Gerald Hüther: Würde, 2018. Klaus Verlag.

 

 

 

 

 

Benjamin Gregg: The Human Rights State, 2016. University of Pennsylvania Press.

 

 

 

 

 

Dieser Beitrag wurde gekürzt in mo – Magazin für Menschenrechte von SOS Mitmensch veröffentlich.

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