2011: Demokratischer Aufbruch

2011 war das Jahr des demokratischen Aufbruchs. Neun mehr oder weniger lose Anmerkungen zu Ereignissen des letzten Jahres und zum Beginn einer neu entfachten Auseinandersetzung um die Demokratie.

Tahir Square - Zentrum des arabischen Frühling. By Jonathan Rashad - Flickr, CC BY 2.0,

1) Die augenscheinlichste Demokratisierung erfasste die arabische Welt. Auch wenn Skeptiker/innen nun zu Recht auf Rückschläge hinweisen – tatsächlich scheint auch in Nordafrika jene lineare Entwicklung zur liberalen Demokratie Platz zu greifen, die Youssef Courbage und Emmanuel Todd 2008 in ihrem hierzulande kaum wahrgenommenen Buch Die unaufhaltsame Revolution – Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern vorausgesagt hatten.

2) In den USA verlor Hoffnungsträger Barack Obama seine Unschuld. Bis zur Tötung Osama bin Ladens bekannte er sich zu multilateralen und menschenrechtlichen Maßstäben. Obama ist Präsident der Supermacht USA. Es war von Anfang an klar, dass dieses rhetorische Commitment in der Praxis nicht einzuhalten ist. Allerdings bedeutet es einen schweren Rückschlag, wenn der mächtigste Mann der Welt zum Bekenntnis zu den Menschenrechten Abstand nimmt.

Finanzkrise ist Demokratiekrise

3) In Europa wurde 2011 zunehmend begriffen, dass die „Finanzkrise“ im Kern eine Demokratiekrise darstellt. Dass die Finanzmärkte so aus dem Ruder laufen konnten, ist ein Ergebnis wirtschaftspolitischer Deregulierung. Ökonomische Eliten hatte sich mit Hilfe ihrer finanziellen Ressourcen exklusiven Zugriff auf politische Entscheidungen verschafft und – wie Colin Crouch in Postdemokratie beschreibt – die Regeln zu ihren Gunsten beeinflußt.

Den bislang ergebenen Staatschefs Europas gelang es nach einer Schrecksekunde auch auf zahllosen Gipfeltreffen nicht, die demokratische Kontrolle über die Finanzwirtschaft zurückzuholen. Mangels Durchsetzungskraft verlegte man sich darauf, „nervöse Märkte zu beruhigen“. Die Bevölkerungen spüren dieses Machtvakuum und verlieren Zutrauen in die kapitalistische, liberale Demokratie. Die Zustimmung zu Autoritarismus steigt in ganz Europa.

2010 und zuvor hatten sich in Europa langsam Ansätze einer neue Politisierungswelle aufgebaut – man denke an die Pariser Vorstädte oder die unibrennt-Bewegung, die sich von Wien aus über den Kontinent ausbreitete. Heuer, 2011, erfasste die Empörung endgültig die verunsicherten Mittelschichten.

Zwischen aggressivem late-night shopping und Leithammel-Politisierung

3) Den britischen Riots im Frühjahr wurde zwar ein politischer Charakter weitgehend abgesprochen. Das „aggressive late-night shopping“ (© Polizeichef von London) habe zwar einen politischen Anlass, aber keine systemkritische Stoßrichtung. Die Looters stellten sich tatsächlich nicht in Opposition zur britischen Gesellschaft, sondern wollten mit aller Gewalt an deren zentralen Dimension, dem Konsum, teilhaben.

4) In Stuttgart machten vielfach aus dem etablierten Millieu stammende Bürger/innen erste Bekanntschaft mit Reizgas und Wasserwerfern der Polizei. Dirk Kurbjuweit beschrieb diese politisierten Konservativen in einem Spiegel-Essay als Wutbürger und entfachte eine nicht abgeschlossene Debatte um die Deutungshoheit darüber, ob es sich dabei nun um egoistische Kleinbürger/innen oder spät-emanzipierte Babyboomer mit Allgemeinsinn handle.

5) Nach Österreich schwappte der Trend zunächst als Pensionist/innen-Politisierung über. Offensichtlich sind in der hiesigen Res Publica Leithammeln wie Hannes Androsch, Erhard Busek oder Anneliese Roher erforderlich, um zivilgesellschaftliches Engagement über die mediale Wahrnehmungsschwelle zu heben. Allerdings zeigten sich bei der Organisation der Kampagnen noch Schwächen. Während die unibrennt-Bewegung bereits einem neuen, unhierarchischen Selbstverständnis politisch Aktiver Rechnung trug, gelang es den Mutbürgern, MeinOE oder dem Bildungsvolksbegehren kaum, dezentrale Beteiligung zu organisieren.

Change moral focus, new policies will follow

6) Währenddessen formierte sich an der Wall Street eine Bewegung, die schon durch die Technik des Human Microphone zum Ausdruck brachte, sie werde sich nicht damit begnügen, ihre Anliegen ins repräsentativ-demokratische System zu tragen. Entgegen allen Stimmen, die nach ausformulierten Forderungen und Bevollmächtigten rufen, sieht Gerog Lakoff die Stärke der Occupy-Bewegung gerade im Umstand, dass sie nicht die politischen Institutionen addressiert, sondern das Wertesystem. Er plädiert dafür, die konservativen Frames anzugreifen und durch eigene zu ersetzen.

It is easy to find useful policies; hundreds have been suggested. It is harder to find a moral focus and stick to it. […] If the moral focus of America changes, new people will be elected and the policies will follow. Without a change of moral focus, the conservative worldview that has brought us to the present disastrous and dangerous moment will continue to prevail.“ (Georg Lakoff)

7) In Occupy Austria formierten sich neuere Gruppierungen. NGOs und die üblichen Verdächtigen hielten sich weitgehend aus der Organisation heraus. Ein klarer, antirassistischer Grundkonsens fehlte, was zahlreiche Obskurant/innen mit mangelnder Abgrenzung zu antisemitischer Globalisierungskritik auf den Plan rief. Bei der Kundgebung am 15. Oktober marschierten auch mehrere Rechtsradikale mit, die ansonsten beim neonazistischen Gedenken an Walter Nowotny oder beim “Totengedenken” am 8. Mai anzutreffen sind. Ein weiterer Demonstrant trug ein gelbes Schild mit der Aufschrift “Goldmann sucks”.

Beginn einer neu entfachten Auseinandersetzung

8 ) Zurück zur globalen Perspektive: Während Russlands gelenkte Demokratie seit den Parlamentswahlen im Dezember offensichtlich mit gröberen Erosionen kämpft, gilt in China noch das Primat der Politik über die Ökonomie. Möglicherweise wurde das Ende der Geschichte zu früh ausgerufen. Es wird nicht laut gesagt, doch das „kommunistische“ China – im wesentlichen eine Marktwirtschaft ohne politische Freiheiten –  gilt vielen als Erfolgsmodell.

9) Noch kann niemand das Ausmaß sozialer Verwerfungen in Folge der Krise in Europa und den USA abschätzen. Es gibt Anzeichen für wirtschaftlichen Aufschwung, doch die Pleite eines Landes oder einer Bank mit Systemrelevanz könnte unabsehbare Folgen nach sich ziehen. Die Aufrüstung der Sicherheitsapparate sowie der ideologischen Arsenale lässt Repression und Abbau von Menschenrechten als die nicht unwahrscheinlichste Anwort der Eliten auf soziale Spannungen erscheinen.

Möglicherweise sind der/die französische, italienische und deutsche Regierungsschef/in bald keine Konservativen mehr. Das könnte den Weg zum demokratischen Umbau der europäischen Institutionen öffnen. Auch wenn es ökonomisch nicht zum Schlimmsten kommt, befinden wir uns am Anfang einer neu entfachten Auseinandersetzung um die Demokratie. Ob sich repressive Kräfte durchsetzen oder emanzipatorische; ob wir Richtung chinesisches Modell gehen, oder in ein demokratischeres Europa – wir werden sehen.

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